Einfach Musik

Nicolai Bernstein18. Juni 2020

Gedanken zur #nachbarschaftsmusik

Es ist Mitte März, die ersten wärmeren Tage des Jahres stehen bevor, die ersten gemütlichen Stunden im Café oder im Park sind am Ende eines wie immer langen Winters greifbar nah. Doch in diesem Jahr kommt alles anders, unvorstellbar anders.

In den ersten Wochen der Pandemie lese ich einen wunderbar mutmachenden Artikel des Zukunftforschers Matthias Horx. In dem Text stellt sich der Autor vor, im September an einem noch warmen Herbsttag nun endlich in einem Café zu sitzen und fragt sich, wie sich das wohl anfühlen wird – was wird so sein wie zuvor, und was nicht mehr?

Heute ist der 17.06. und ich sitze zum ersten mal seit drei Monaten im ICE auf der Fahrt zu einer Probe. Ein zuvor alltägliches Ereignis also, wie der von Horx beschriebene Cafébesuch. Ich stelle mir die Fragen des Artikels, erkunde meine Empfindungen und Gedanken im Rückblick auf die vergangenen Monate.

Musik hat in meinem Leben von Kindesbeinen an eine zentrale Rolle gespielt. Ich habe der Musik, dem Musizieren und all den Dingen, die dazu gehören unzählige Stunden meines Lebens gewidmet. Dabei lernte ich viele unterschiedliche Zugänge zur Musik kennen - verschiedene Wege, auf denen eine bestimmte Vorstellung von Musik und Musizieren verwirklicht werden kann. Manche Wege befruchteten sich gegenseitig, andere wiederum gerieten in Konflikt miteinander. So entstand etwas, dass ich heute als meine musikalische Identität wahrnehme.

Als nun die Krise beginnt, überredet mich meine Frau Anna-Lena – zum Glück – für die Menschen in unserer Nachbarschaft an ihren Balkonen und Fenstern zu spielen. Das ist nicht gerade etwas, das zu meiner Identität gehört, denn es kostet mich einige Überwindung, sind doch auf der Straße viele Faktoren, die für mich beim Musizieren wichtig sind extrem erschwert - allein wegen der akustischen Situation.

Trotz aller Bedenken ziehen wir dann mit Instrumenten, Notenständern, einem kleinen Hocker und allem, was wir sonst noch brauchen los. Wir spielen die ersten Stücke, und zu meiner großen Überraschung strahlen die Gesichter der wenigen Zuhörer vor allem Freude und Dankbarkeit aus!

Nach drei kurzen Konzerten auf der Straße kommen wir erschöpft, aber glücklich nach Hause. Und was in diesen Stunden geschehen war, erscheint mir noch immer wie ein kleines Wunder. Nie zuvor hatte ich das Musizieren in einem solchen Licht gesehen und in dieser Ursprünglichkeit erlebt – als etwas zutiefst menschliches, als Ausdruck eines grundlegenden Bedürfnisses nach gegenseitiger, seelischer Begegnung und Berührung.

Nun bin ich also wieder auf der Fahrt zu einer Probe, ganz wie in den alten Tagen, und frage mich: Wie wird mich diese Erfahrung beeinflussen? Werde ich anders musizieren als zuvor? Wird es meinen Fokus verändern? Und natürlich stellt sich mir besonders folgende Frage: wie war das geschehen?

Wir standen an der Strassenecke, mit Cello und Geige, und haben gespielt – ohne Akustik, ohne Scheinwerferlicht, ohne Glanz – einfach Musik!

 

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